Mein TSG-Moment (2): René Ottinger und dieses 4:2
»In 15 Jahren TSG Hoffenheim den einen Moment herauszupicken, fällt mir nicht leicht. Und doch thront über allem dieses Tor zum 4:2 im Youth-League-Viertelfinale 2019 gegen Real Madrid. Ein Tor, das nicht nur den Sieg (!) gegen Real (!) und die Qualifikation für das Final Four in Nyon (!) bedeutete. In dieser Sekunde haben sich mehrere Tage Anspannung in Luft aufgelöst.
Bis zu dieser denkwürdigen Partie haben wir eine nahezu perfekte Youth-League-Saison gespielt. Vom Auftaktsieg in Charkiw über den Gruppensieg bis zum Achtelfinal-Erfolg im Elfmeterschießen gegen Kiew, alles lief wie am Schnürchen. Und dann kamen die „Königlichen“ in den Kraichgau. Die Vorfreude auf dieses Duell war riesengroß, aber für mich bedeutete es auch jede Menge Arbeit. Wir hatten knapp zwei Wochen Vorlaufzeit und mussten neben den normalen organisatorischen Hürden auch mit unvorhersehbaren Problemen kämpfen.
Zum ersten Mal seit dem Aufstiegsspiel der Profis in die Bundesliga im Mai 2008 würde das Dietmar-Hopp-Stadion ausverkauft sein. Der Ticketverkauf, die Vergabe der Ehrenkarten, die Parkplatzsituation, die Verkehrsüberlastung, das alles waren Themen, die mich tagelang beschäftigten, die Anfragen prasselten praktisch rund um die Uhr herein. Die Organisation lief reibungslos – bis zum Tag vor dem Spiel. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände hatte es im Stadion die Elektronik zerschossen. Es gab zwar noch Strom, aber die elektrischen Türen, die Duschen, das Internet, die Bewässerungsanlage – nichts ging mehr.
Das mit dem Bewässern sollte sich zwar erledigen, da es das ganze Spiel über in Strömen regnete, aber das wussten wir 24 Stunden vor dem Anpfiff nicht. Als ich den Real-Madrid-Tross nach dem Abschlusstraining in der Akademie-Arena durch das Dietmar-Hopp-Stadion führte und die Spanier die lose von der Decke hängenden Kabel sahen, war mir ziemlich mulmig zu Mute. Aber: Während bei dem einen oder anderen die Nerven blank zu liegen begannen, blieb ich zuversichtlich und versuchte, Optimismus auszustrahlen. Heute kann man es allerdings sagen: Eine Zeitlang stand dieses Spiel tatsächlich auf der Kippe.
Einige Kollegen sind am 3. April 2019 mit Schweißperlen aufgewacht. Präsident Peter Hofmann und sein Team hatten eine Nachtschicht eingelegt und sichergestellt, dass die Mannschaften wenigstens duschen konnten – und nach und nach kamen die Systeme glücklicherweise wieder ans Laufen. Gegen Abend zog sich der Himmel zu, die Menschen strömten die Silbergasse hoch, das Stadion war pickepackevoll. Unsere Jungs hatten sich diesen Auftritt vor dieser Kulisse absolut verdient!
Und dann diese Dramaturgie: Der Wolkenbruch, frühe Tore und leider auch ein tragischer Zwischenfall, weil ein Zuschauer einen Herzinfarkt erlitt und später verstarb. Ich stand in ständigem Austausch mit dem UEFA-Delegierten und mit dem Deutschen Roten Kreuz. Und kurz vor Schluss führten wir schließlich 3:2. Die größte Last war zu diesem Zeitpunkt bereits abgefallen, denn trotz aller Bedenken war in der Spieltagsorganisation alles reibungslos verlaufen. Aber das Sahnehäubchen fehlte noch. Nach all diesen Turbulenzen sollte sich jetzt bitte auch die Mannschaft für ihre grandiose Leistung auf dem Platz belohnen!
Als David Otto in der 90. Minute von der Mittellinie mit dem Ball in Richtung Real-Strafraum sprintete, dauerte das gefühlt eine Viertelstunde. Wegen des nassen Rasens, wegen der Spannung. Er schüttelte einen hartnäckigen Abwehrspieler ab und tanzte einen weiteren kurz vor dem Fünfmeterraum aus. Ich habe mir die Szene danach noch tausend Mal angesehen. Es wäre ihm zu gönnen gewesen, dass er das Tor macht, denn David hatte sich als U20-Spieler über die ganze Youth-League-Saison wie ein Irrer reingehängt und als unser Führungsspieler so einiges von der „internationalen Härte“ kantiger Abwehrspieler abbekommen. Doch der Madrider Schlussmann parierte den mit letzter Kraft abgegebenen Schuss. Und dann stand da Tim Linsbichler. Es waren Sekundenbruchteile. Parade, Abstauber, Tor – und in diesem Moment ist einfach alles, was sich die Tage davor angestaut hatte, von mir abgefallen. Jetzt war die Regenschlacht endgültig entschieden. So habe ich noch nie in einem Fußballstadion durchgeschnauft.
Ich hatte nicht viel Zeit zum Jubeln, denn unmittelbar nach dem Schlusspfiff gingen schon die Vorbereitungen auf die Final Week in Nyon los. Aber dieser eine Moment, so kurz vor Schluss, dieses 4:2 – das bleibt unvergessen.«
Ein Blick zurück: 3. April 2019 | U19 bezwingt Real Madrid in Regenschlacht