Topform nach dem Tiefpunkt
Andrej Kramarić hat Titel in Kroatien gewonnen, zwei WM-Medaillen in der heimischen Vitrine und mit der TSG Hoffenheim den Klassenerhalt 2016 erreicht. Umso bemerkenswerter war das Eingeständnis des 31-Jährigen nach dem emotionalen 4:2-Triumph gegen Union Berlin, der die Abstiegssorgen aus Hoffenheim vertrieben hatte: „Nun dürfen wir feiern. Wir haben es endlich geschafft. Es war kein leichtes Spiel, für mich war es eine der schwierigsten Saisons in meiner Karriere.“
Dass die Spielzeit 2022/23 ein erträgliches Ende nahm, hatte die TSG auch und in vorderster Linie ihrem Top-Torjäger zu verdanken. Als das Team am 24. Spieltag auf Rang 18 gestürzt war, hatte ihn Trainer Pellegrino Matarazzo in die Pflicht genommen und als den Mann bezeichnet, der Hoffenheim aus dem Keller führen könne. Und Kramarić lieferte. Sieben Treffer und ein Assist sind eine beindruckende Ausbeute aus dem Saisonendspurt – und angesichts von vier Elfmetertoren auch ein Beleg der bemerkenswerten Nervenstärke des Kroaten. Vor allem das zuvor als Endspiel auserkorene Heimduell mit dem späteren Absteiger Hertha BSC dürfte den Fans noch lange in Erinnerung bleiben. Hoffenheim gewann 3:1, Kramarić verwertete zwei Strafstöße und leitete so die Aufholjagd der TSG ein. Sich den Ball zu nehmen – und nach dem ersten Treffer erneut anzutreten – war für den WM Zweiten von 2018 selbstverständlich: „Wenn ich auf dem Platz bin, schieße ich eigentlich immer. Ich habe mich gut gefühlt und wollte Verantwortung übernehmen. Ich war selbstbewusst und wusste, dass ich ein guter Schütze bin und den Torhüter auch zweimal überwinden kann. Man darf in so einer Situation keine Angst haben.“
Von 28 Elfmeter-Duellen in der Bundesliga hat Kramarić 24 für sich entschieden. 85,71 Prozent sind eine beachtliche Quote, doch trotz der jüngsten Erfolgsserie gibt der Angreifer zu, dass die Spezial-Disziplin in den vergangenen Jahren schwieriger geworden ist. „Die psychologische Komponente wird immer wichtiger. Torhüter wissen alles über die Schützen, kennen die Lieblingsecken. Sie studieren die Spieler, merken sich Besonderheiten beim Anlauf und man sieht, wie viele Strafstöße mittlerweile gehalten werden und, dass die Keeper fast immer in der richtigen Ecke sind. Oliver Baumann ist das beste Beispiel, er hat eine Wahnsinnsquote und hat uns schon oft gerettet.“
Doch Kramarić traf nicht bloß vom Punkt, sondern erwies sich auch von außerhalb des Strafraums als Standard-Experte, als er in München einen Freistoß zum 1:1 ins Netz zirkelte und der TSG so einen weiteren wichtigen Punkt bescherte. Ein besonders schöner Treffer – und einer, der in der persönlichen Favoritenliste weit oben rangiert: „Das war ein geiles Gefühl.“
Wenige Wochen später wurde dieses sogar getoppt. Erneut durch einen Sieg, erneut durch einen Doppelpack, erneut gegen Berlin. Dieses Mal jedoch gegen Union und garniert mit dem Klassenerhalt – sowie dem Erreichen zweier Jubiläen. Beim 4:2 glückte Kramarić beinahe alles, der 33. Spieltag wurde zum perfekten Tag im wichtigsten Moment der Saison. Per Strafstoß traf er zum 2:0 und erzielte so seinen 99. Bundesliga-Treffer für die TSG. Dann erzielte er das erlösende 3:1 – sein 100. Treffer in der Liga – und bereitete schließlich mit seinem 50. Assist im Hoffenheimer Trikot die Entscheidung durch Munas Dabbur vor. Kramarić jubelte entfesselt, zog nach dem 3:1 sogar sein Shirt aus und stand nach dem Spiel lange Arm in Arm mit seinem Sturmpartner auf dem Rasen.
Zweifel am Klassenerhalt hatte er ohnehin nicht gehabt, wie er über Wochen betonte. Sorgen, dass ihn das Erreichen der 100-Tore-Marke lähmen könnte wie einst die Schallmauer als Rekordtorjäger, als er viele Spiele auf den Rekordtreffer warten musste, ebenfalls nicht: „Ich bin erfahren genug und habe nicht viel darüber nachgedacht. Zudem ging es in der Schlussphase um viel mehr als persönliche Statistiken.“ Nach der erfolgreichen Rettung war die Freude über die 100 Bundesligatore aber dennoch groß: „Es war lange Zeit ein großer Traum von mir, dieses Ziel zu erreichen. Ich hätte nach meinem Wechsel zur TSG nie gedacht, mal in diese Situation zu kommen. Das ist etwas ganz Besonderes für mich.“
Die spezielle Freude, die auch mit Genugtuung einher geht, liegt auch an dem Gefühl, es Kritikern, Fans und Mitspielern mal wieder gezeigt zu haben – nachdem einige Experten in der Hoffenheimer Schwächephase das Alter des am 19. Juni 32 Jahre alt werdenden Stürmers thematisiert und ihm nicht mehr zugetraut hatten, eine ähnlich wichtige Rolle für die TSG wie in den vergangenen Jahren zu spielen. Doch Kramarić hat sämtliche Thesen widerlegt – und noch viel vor: „Ich halte diese Diskussionen für falsch. Wenn man sieht, was Spieler wie Messi oder Benzema mit weit über 30 noch leisten, sollte man nicht so viel über das Alter diskutieren. Im Laufe der Karriere verändert man seine Spielweise ein wenig – das haben sie getan und das mache ich – und passt sie an die körperlichen Entwicklungen an. Vielleicht agiere ich auch mittlerweile öfter mal ein wenig mehr als zentraler Mittelfeldspieler. Mein Ziel ist es, immer Top-Leistungen zu bringen.“
Obwohl er den Druck des Tabellenkellers als beflügelnd empfunden hat, kann Kramarić zukünftig gut auf die spezielle Motivationsspritze verzichten: „So eine Saison wollen wir nicht wiederholen, sondern wieder an die alten Zeiten anknüpfen.“