Neuling mit vielen Talenten
Angelo Stiller ist bei der TSG seit seiner Ankunft auch undercover unterwegs. Denn der 20-Jährige hat ein Geheimnis – und dieses im Mannschaftskreis gehütet. Noch nie schöpfte jemand Verdacht, wenn der gebürtige Münchner bei Unterhaltungen zwischen Andrej Kramarić und Ermin Bičakčić auf Kroatisch zum stillen Zuhörer wurde. Der Hintergrund des Lauschangriffs liegt in der Familie: Angelos Mutter ist Kroatin, Stiller hat entsprechend Kenntnisse der sprichwörtlichen Muttersprache erworben – und testet diese in Hoffenheim nun regelmäßig aus, wie er im SPIELFELD-Gespräch schelmisch lächelnd preisgibt: „Meine Großeltern sind Kroaten und kurz vor der Geburt meiner Mutter von Kroatien nach München ausgewandert. Sie spricht deshalb fließend Kroatisch. Wenn sie in ihrer Muttersprache redet, verstehe ich zumindest immer, was sie von mir will. Bei Andrej ist das ähnlich.“ Doch es passt zum schüchternen Bayern, dass er mit diesem Talent im Mannschaftskreis nicht hausieren ging. „Das ergibt nicht wirklich Sinn, wenn ich erst sage, dass meine Familie aus Kroatien stammt und dann nicht selbst die Sprache spreche.“
Seine zurückhaltende Art in der Kabine weicht auf dem Platz der Präsenz und Führungsqualität – trotz seines jungen Alters. Hier wandelt sich Stiller vom stillen Zuhörer in einen ballsicheren Spielgestalter. Sich hinter den erfahrenen Kollegen zu verstecken ist für Stiller keine Option. In seinen bisherigen Auftritten im Hoffenheimer Trikot stellte er dies unter Beweis – und sicherte sich so den Respekt der Mitspieler und des Trainers. „Er besitzt als zentraler Mittelfeldspieler unglaubliche strategische Fähigkeiten. Angelo kann ein Spiel lesen und ist in der Lage, ein Spiel aus der Sechserposition heraus zu diktieren“, sagt Chefcoach Sebastian Hoeneß über seinen Stiller, der ihm mit einjähriger Verspätung von der zweiten Mannschaft des FC Bayern München in den Kraichgau folgte. Seither erlebt Stiller in Hoffenheim einen schnellen Aufstieg. Der Übergang von der dritten in die höchste deutsche Spielklasse funktionierte nahtlos, unmittelbar nach seinem Wechsel war er bereits in DFB-Pokal und Bundesliga gesetzt – auch, aber nicht nur aufgrund einiger Ausfälle auf seiner Position. „Ich bin super gestartet. Die ersten Spiele habe ich alle gemacht, damit hätte ich nicht gerechnet“, sagt Stiller. Es folgte eine kurze „Durststrecke“ in der Bundesliga, wie er die Zeit zwischen dem vierten und achten Spieltag beschreibt. Gegen seinen Ex-Klub feierte Stiller dann sein „Mini-Comeback“ nach zuvor fünf Spielen ohne Einsatz in der Liga. Eine Ausnahme in der Karriere des erfolgsverwöhnten Junioren-Nationalspielers, der zuvor stets gesetzt war. Umso überraschender ist sein Umgang mit der ungewöhnlichen Situation: „Ich bin neu hier, zudem noch sehr jung. Da lernt man in so einer Phase nur dazu. Ich bin gestärkt aus dieser Zeit rausgegangen, auch wenn ich nicht gespielt habe.“
„Er besitzt als zentraler Mittelfeldspieler unglaubliche strategische Fähigkeiten. Angelo kann ein Spiel lesen und ist in der Lage, ein Spiel aus der Sechserposition heraus zu diktieren.“ Sebastian Hoeneß
Angelo Stiller wirkt aufgeräumt. Er ruht in sich, das Vertrauen in die eigene Stärke ist groß –und ebenso die Lust auf Verbesserung. Dass er die Wochen in der Zuschauerrolle nutzte, um an sich selbst zu arbeiten, stellte er beim Erfolg in der 2. Runde des DFB-Pokals unter Beweis. Der 5:1-Sieg über Holstein Kiel markierte den bisherigen Höhepunkt in Hoffenheim: Gegen den Zweitligisten erzielte er seinen Premieren-Treffer für die TSG, im Anschluss an die Partie wurde er mit dem „Man of the Match“- Award für seine gute Leistung belohnt. „Er war die ordnende Hand im Mittelfeld, eroberte Bälle, verteilte sie und versuchte, die Defensive so gut wie möglich zusammenzuhalten“, analysierte der „SWR“ das Spiel des Mittelfeldakteurs.
Souveränität vermittelt Stiller auch abseits des Platzes. Locker und selbstsicher, stets freundlich – und nie überheblich. Es wirkt, als wäre er bereits vollends angekommen im Kraichgau, nachdem er sein gesamtes Leben in München verbracht hatte. In seiner Heimatstadt hatte er zuvor den Traum gelebt, den fast jeder fußballbegeisterte Junge in der bayerischen Hauptstadt träumt: 2010, im Alter von neun Jahren, wechselte Stiller von seinem Heimatverein, dem TSV Milbertshofen, in die Jugend des deutschen Rekordmeisters, wurde beim FC Bayern in der U14 vom Zehner zum Sechser umgeschult und durchlief fortan alle Junioren-Teams bis zur U23.
Durch seine konstant guten Leistungen wurde auch die erste Mannschaft der Münchner auf ihn aufmerksam. Nach seinem Profi-Debüt im DFB-Pokal verhalf ihm der heutige Bundestrainer Hansi Flick zu seiner Premiere in der Champions League. Im Dezember 2020 lief Stiller in der Königsklasse bei Atlético Madrid auf. Eine Premiere auf höchstem Niveau – mit gutem Ende: „Das war etwas ganz Besonderes. Als Hansi Flick mich zur Einwechslung gerufen hat, stieg die
Anspannung noch einmal. Aber dann lief es gut, wir haben durch ein spätes Tor sogar noch 1:1 gespielt“, erinnert sich Stiller. Plötzlich schien doch möglich, was Angelo Stiller selbst noch in der U19 unrealistisch erschien: nach Thomas Müller der nächste in München geborene Stammspieler des FC Bayern zu werden. Doch wie so viele Talente des Rekordmeisters musste auch Stiller erkennen, dass die extrem hohe Leistungsdichte in München zwar im Training lehrreich ist, auf der Suche nach Spielpraxis aber nicht wirklich zielführend. Nach seinem Champions-League-Debüt absolvierte er lediglich fünf weitere Minuten für die erste Mannschaft. Auf sein erstes Bundesligaspiel im roten Dress dagegen wartete er vergeblich. „Ich habe nie wirklich eine Chance bekommen“, sagt Stiller rückblickend. Denn die Münchner verpflichteten im Sommer 2020 in Marc Roca und Thiago Dantas plötzlich kostspielige Konkurrenz auf seiner Position. „Da war ich natürlich geschockt“, gesteht Stiller. „Das war schon wie ein Schlag ins Gesicht.“
Bei der TSG dagegen sah er sofort die „perfekten Voraussetzungen“, um sich als Stammkraft zu etablieren. „Ich wusste, dass Hoffenheim auf junge Spieler setzt. Zudem wird hier guter Fußball gespielt, und ich habe die Chance, als Spieler zu wachsen. Deshalb fiel mir der Wechsel überhaupt nicht schwer.“ Stiller wollte in der Beletage ankommen, den nächsten Schritt in seiner Karriere vollziehen: „Die Dritte Liga ist auch schon sehr professionell, dennoch bist du da bei den Bayern letztlich nur eine Zweitvertretung. Hier geht es anders zu, es wird auf viel mehr geachtet. Das ist die Bundesliga, es geht um alles. Deshalb genieße ich es
auch umso mehr.“
Nach dem Sprung in die Bundesliga erreichte Stiller im September einen weiteren Meilenstein. Der damalige DFB-Coach Stefan Kuntz nominierte ihn erstmals für die U21- Nationalmannschaft. „Ich bin nun fester Bestandteil des Teams, darauf bin ich sehr stolz“, sagt Stiller, der in bislang sechs Partien für die DFB-Junioren bereits drei Scorerpunkte beisteuern
konnte. Auch unter dem neuen Trainer Antonio Di Salvo ist er gesetzt. Trotz seines hervorragenden Einstands – sowohl bei der Nationalmannschaft als auch bei der TSG – formuliert er zurückhaltende Ziele: „In erster Linie möchte ich mich bestmöglich entwickeln. Dazu ist es wichtig, dass ich viel spiele. Und sobald ich eine Chance erhalte, möchte ich sie
nutzen. Den Rest sehen wir dann.“ Doch bei allem verborgenen Talent – dass es zu einer überraschenden Wendung kommt und er zukünftig zusammen mit Andrej Kramarić zu Länderspielen reist, schließt Angelo Stiller eigentlich aus: „Ich habe mir bislang noch nie Gedanken darüber gemacht, für Kroatien zu spielen. Ich konzentriere mich voll auf die TSG und bin hier sowie in der U21 des DFB sehr glücklich.“