Spielintelligenz statt Vielfliegerei
Als die Mutter eines jungen Spielers die Akademie betritt und nach den neuen Handschuhen für ihren Sohn fragt, muss sie nicht lange warten. Michael Rechner hat die Arbeitskleidung schon gerichtet. „Auch das gehört zu meinem Job“, sagt der Ex-Profi. Und den macht er unheimlich gerne. 2008 kam er als Student nach Hoffenheim mit dem Auftrag, den Bereich der Torhüterausbildung im Nachwuchsbereich zu professionalisieren und das Torwarttraining konzeptionell anzugehen. „Ich habe den Sprung nach ganz oben nicht geschafft, also habe ich 2004 in Heidelberg mein Sportwissenschaftsstudium begonnen“, sagt Rechner. In seiner Abschlussarbeit beschäftigte er sich mit dem „Anforderungsprofil eines Torhüters anhand einer Weltstandanalyse der EM 2008“. Seit Sommer 2009 ist er nun hauptamtlich Koordinator in der achtzehn99 AKADEMIE. Das Training der A- und B-Junioren (U16 bis U19) übernimmt er dabei selbst, für die U15 bis U12 sind die Honorarkräfte Georg Reiser und Dominik Weber zuständig. Wenn er nicht auf dem Platz steht, arbeitet Rechner an der Konzeption und Koordination in punkto Ausbildung, Scouting und Organisation. „Das alles geschieht in engster Abstimmung mit unserem Profi-Torwarttrainer Zsolt Petry, wir sprechen alles gemeinsam ab und haben täglich Kontakt. Wertvolle Unterstützung erfahre ich auch durch César Thier, der für die U23 zuständig ist, sowie durch unseren Torwart-Scout Karsten Lange.“
Bei der Verpflichtung des jungen Belgiers Koen Casteels vom KRC Genk zogen alle an einem Strang. Der 19-Jährige fiel vor zwei Jahren bei einem Junioren-Länderspiel auf und stand seither unter Beobachtung. „Wir haben ihn mehrfach gesehen, im Spiel wie im Training, uns Informationen über ihn eingeholt und waren absolut von ihm überzeugt.“ Im selben Atemzug betont Rechner aber das ehrgeizige Ziel, das er mit seinen Kollegen verfolgt: „Casteels soll die letzte Torhüterverpflichtung gewesen sein. In Zukunft wollen wir unsere Leute nach oben bringen.“ Daniel Lück ist zum Beispiel so einer. 2010 mit den A-Junioren DFB-Pokalsieger, hütet der 20-Jährige mittlerweile das U23-Gehäuse und hinterließ auch im Trainingslager der Profis einen starken Eindruck. „Er hat eine gute Entwicklung genommen und befindet sich auf einem sehr guten Weg. Viele andere Gute kommen nach.“ Besonders erfreulich: Im jungen B-Jugend-Jahrgang 1996 wurden gleich beide Hoffenheimer Keeper zum DFB-Lehrgang der U16-Nationalmannschaft berufen. Konkurrenz belebt eben das Geschäft. Aber Rechner stellt klar: „Wir wollen hier kein Kahn/ Lehmann-Verhältnis, so etwas schwächt die Mannschaft. Stattdessen fordern wir ein kollegiales Miteinander, die Jungs sollen sich gegenseitig pushen und unterstützen.“ Aus diesem Grund ist auch jeden Montag im Förderzentrum Zuzenhausen ein gemeinsames Training mit allen Keepern von der U19 bis zum Kinderperspektivteam angesetzt, an dem auch alle Torwart-Trainer beteiligt sind. „Das ist eine Riesenmotivation für die Jungs. So lernen sie sich über die Alterskategorien hinweg kennen und feuern sich an Wochenenden gegenseitig per SMS an.“ Torhüter sind eben eine eigene Spezies. Ein bisschen verrückt. „Positiv verrückt“, stellt Rechner klar. Für keine andere Position gibt es so viele Bezeichnungen, angefangen von der „Nummer 1“, über den Torwart, Torhüter, Torwächter oder Torspieler bis hin zum Schlussmann oder den Anglizismen Keeper und Goalie. „In Hoffenheim ist uns die exakte Bezeichnung egal“, sagt Rechner. „Auf die Inhalte kommt es an.“
„Die beste Parade ist der gegnerische Pass nach außen.“
Bei verschiedenen Hospitationen hat der Ex-Profi seine Philosophie geschärft. Unter anderem war er bei Bayer Leverkusen, um Rüdiger Vollborn bei der Arbeit mit René Adler über die Schultern zu schauen. Oder beim VfB Stuttgart, als „Ebbo“ Trautner noch Jens Lehmann trainierte. Schauen, wie andere arbeiten. Aus diesen Hospitationen, gepaart mit der Erfahrung des mehrfachen ungarischen Nationalkeepers Zsolt Petry, seiner eigenen, und einer akribisch angefertigten Weltstandsanalyse, in der das Torhüterspiel bei den jüngsten großen Turnieren genauestens unter die Lupe genommen wurde, setzt Michael Rechner seine Konzeption um. Zuletzt war er beim FC Bayern München zu Gast, um von Torwarttrainerlegende Frans Hoek zu lernen. Aus der Schule des Niederländers gingen unter anderem Vàctor Valdés (FC Barcelona), „Pepe“ Reina (Liverpool FC) und nicht zuletzt Edwin van der Sar hervor. Der Ex-Keeper von Ajax Amsterdam, Juventus Turin und Manchester United verkörperte mit seiner Spielweise genau den Typus, den Rechner und sein Trainerteam ausbilden wollen.
„Es gibt natürlich mehrere Komponenten, die einen guten Torwart ausmachen. Die, auf die wir den größten Wert legen, ist die Mentalität. Der eiserne Wille, mehr als andere trainieren und sich durchsetzen zu wollen.“ Van der Sar sei nicht mit dem allergrößten Talent gesegnet, aber der Prototyp des modernen, weil mitspielenden Torhüters gewesen. Er habe sich mehr durch Antizipation als durch Vielfliegerei ausgezeichnet. Denn wer fliegen muss, hat vorher etwas falsch gemacht. „Der gegnerische Pass nach außen war Van der Sars beste Parade“, zitiert Rechner Frans Hoek. „Er hat es verstanden, oftmals so gut vor dem eigenen Tor zu stehen, dass sich der Gegner keinen Steilpass erlauben konnte, daher den Weg durch die Mitte scheute und den Pass nach außen spielte.“ Eine brenzlige Situation zu verhindern ist immer noch besser als die spektakulärste Parade. Und genau das versucht Rechner mit seinem Team auch den Hoffenheimer Nachwuchs-Torhütern zu vermitteln. „Wir wollen spielintelligente Torhüter, die das Spiel lesen können und daraufhin die richtige Entscheidung treffen.“ Sein Trainingskonzept umfasst daher nicht nur die Bereiche Technik und Taktik, sondern auch torwartspezifische Athletik und Psyche, um unter anderem das periphere Sehen und die Konzentration zu fördern und die Persönlichkeit zu formen. „Ich habe schon viele Torhüter gesehen, die ein überragendes Talent hatten und Juniorennationalspieler waren, aber den großen Sprung nicht geschafft haben, weil die Einstellung nicht stimmte.“
Es braucht immer etwas Zeit, bis ein Konzept erste Früchte trägt. Bald, so Rechner, soll es auch bei 1899 Hoffenheim soweit sein. Dann soll mindestens ein „Verrückter“ aus dem eigenen Nachwuchs im Profi-Kader stehen. Woher kommt eigentlich dieses Vorurteil? „Uns Torhütern macht es eben am meisten Spaß, genau das zu verhindern, was die Leute am Fußball so lieben. Den Torerfolg.“