Historische Spiele (4): Meisterstück in Walldorf
Markus Gisdol fuchtelte am Spielfeldrand wie wild umher und rief dem Schiedsrichter mehrfach zu, dass nun endlich Schluss sei. Selbst die Nachspielzeit war schon lange abgelaufen. Dann endlich, um 20:42 Uhr, nahm Tobias Schmitz die Pfeife in den Mund.
Wenige Monate zuvor stand die U23 der TSG noch vor einem Scherbenhaufen. Zwar hatte „Hoffe zwo“ eine bärenstarke Saison absolviert und die Oberliga Baden-Württemberg auf Platz zwei abgeschlossen, doch im Anschluss verabschiedeten sich fast alle Spieler. Allein fünf wechselten zu ihrem Ex-Trainer Rainer Scharinger, der die TSG kurz vor Runden-Ende in Richtung VfR Aalen verlassen hatte. Gerade mal zwei, Kai Herdling und Philipp Klingmann, waren übrig geblieben. Aufstieg verpasst, kein Trainer, keine Spieler.
Der neu verpflichtete Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, Ernst Tanner, hatte also gleich alle Hände voll zu tun. Sein Auftrag war deutlich formuliert: Mit Ausnahme der TSG Hoffenheim spielten die U23-Teams aller Bundesligisten mindestens in der Regionalliga, nur eben die Kraichgauer nicht.
Tanners Telefon stand nicht still. Binnen kürzester Zeit musste er einen titelreifen Kader zusammenstellen. Trainieren sollte ihn Markus Gisdol, den er vom SSV Ulm in die Silbergasse holte und der mit Co-Trainer Otmar Rösch und dem 19-jährigen Andreas Ludwig gleich zwei weitere „Spatzen“ mitbrachte. Nahezu täglich wurden im Sommer Neuverpflichtungen vermeldet, nur sechs A-Junioren hochgezogen. Die kurze Eingewöhnungsphase stand in keinem Verhältnis zum Druck, der auf dem Team lastete.
Fehlstart in Weinheim
Dann der Fehlstart. Als Top-Favorit strauchelte „Hoffe zwo“ gleich am ersten Spieltag beim Verbandsliga-Aufsteiger TSG Weinheim und verlor 0:1. Tanner legte nach und holte mit Alexander Rosen von den Stuttgarter Kickers den neben Herdling und Neuzugang Adam Jabiri dritten „Oldie“.
Mühsam kletterte „Hoffe zwo“ nach oben, bezog aber im Herbst zwei weitere 0:1-Niederlagen, eine in Schwäbisch Gmünd und die andere beim Spitzenreiter VfL Kirchheim/Teck, der zu enteilen drohte. Doch nach und nach kam der TSG-Zug ins Rollen. Herdling und Jabiri trafen in schöner Regelmäßigkeit (am Ende zusammen 31 Tore), im defensiven Mittelfeld hielt Rosen ihnen den Rücken frei. Auf der rechten Außenbahn brachte Verteidiger Philipp Klingmann seine Offensivqualitäten zur Geltung und die Jungspunde Christoph Hemlein aus der eigenen Jugend und Andreas Ludwig brachten es zusammen auf 17 Treffer.
Im Mittelfeld deutete der aus Schwäbisch Gmünd gekommene Dominik Kaiser Woche für Woche an, es eines Tages in die Bundesliga schaffen zu können, und die im Spätjahr aus der U19 hochgezogenen Robin Neupert und Marco Schäfer wurden sofort zu Stammspielern. Am zweiten Spieltag der Rückrunde belegte die Gisdol-Elf erstmals Platz eins. Sie befand sich gerade mitten in einer Serie von neun Zu-null-Siegen hintereinander, die das Team nicht zuletzt Schlussmann Jens Grahl zu verdanken hatte.
Jabiri trifft, „Weltklasse-Leistung“ von Grahl
Am 30. Spieltag stand schließlich das Derby beim FC-Astoria Walldorf an, das zugleich ein Spitzenspiel Zweiter gegen Erster war. Die Ausgangslage: Mit einem Sieg wäre „Hoffe zwo“ die Meisterschaft – und somit der lang ersehnte Aufstieg in die Regionalliga – nicht mehr zu nehmen gewesen. Sicher, auch bei einer Niederlage oder einem Unentschieden hätte die Gisdol-Truppe weiterhin alle Trümpfe in der Hand gehabt. Aber warum unnötig verschieben? Dieser Frühlingsfreitagabend im Dietmar-Hopp-Sportpark schien perfekt.
Nach fahrigem Beginn nahm die TSG, unterstützt von 100 lautstarken Fans, das Heft in die Hand. Winter-Neuzugang Denis Thomalla brachte den Ball von der linken Seite in die Mitte, wo Adam Jabiri zur 1:0-Führung einköpfte (26.). Was danach passierte, riss TSG-Torwarttrainer Oliver Tuzyna später zu dieser frenetischen Aussage hin: „Das war heute eine Weltklasse-Leistung.“ Keeper Jens Grahl spielte wie im Rausch. Nicht, dass Walldorf eine totale Dominanz ausgeübt hätte, doch kamen die Astor-Städter zu mehreren „Hundertprozentigen“, die die Hoffenheimer Nummer 1 allesamt parierte – und somit die Elf von Trainer Roland Dickgießer zur Verzweiflung trieb.
Im Spielbericht auf der TSG-Homepage hieß es: „In der Schlussphase des ersten Abschnitts legte Grahl Glanzparaden im Zwei-Minuten-Takt hin. Erst verzweifelte Michael Kettenmann nach präzisem Kopfball (35.), dann konnte es der technisch starke Nicolai Groß nicht fassen, dass sein trockener Schuss aus kurzer Distanz nicht im Netz zappelte (37.). Als auch sein Hammer aus 16 Metern Grahls Beute wurde (39.), rieben sich die Zuschauer auf der Haupttribüne verwundert die Augen. Die Führung hing nun am seidenen Faden, Tabe Nyenty klärte in letzter Sekunde gegen Kettenmann (41.). […] Marcel Löbich scheiterte mit einem seiner gefährlichen Freistöße an Grahl (67.), der zudem in der 82. Minute einen abgefälschten Schuss aus dem Toreck fischte (82.). Auf Hoffenheimer Seite hatten Ludwig (54.) und Jabiri (78.), dem ein weiterer Kopfballtreffer wegen vermeintlicher Abseitsstellung verweigert wurde, noch nennenswerte Möglichkeiten, doch in der hektischen Schlussphase ging es nur noch darum, den Sieg und den Aufstieg über die Zeit zu retten.“ Dann der Schlusspfiff.
Dietmar Hopp bejubelt „sehr wichtigen Aufstieg“
„Nie mehr … Oberliga!“, skandierten Fans und Spieler gleichermaßen auf dem sektgetränkten Rasen, Gisdol stimmte im Kreis seiner Jungs eine Humba an. Als das Flutlicht ausging, waren die Jubelszenen noch lange nicht vorbei. „Wir haben‘s geschafft“, schrie der überglückliche Siegtorschütze Jabiri seine Freude in den Abendhimmel und Herdling jubelte: „Ich habe noch nie in so einer Mannschaft gespielt. Ich bin stolz und dankbar, ein Teil dieses Teams zu sein.“ Dann zog der Kapitän weiter zum nächsten Jubelfoto – mit Dietmar Hopp. „Das ist ein sehr wichtiger Aufstieg, damit unsere Zweite näher an die Bundesliga-Mannschaft heranrückt“, sagte der TSG-Mäzen und stimmte in die allgemeine Euphorie ein: „Nie mehr … Oberliga!“
Aus der Kabine im FC-Astoria-Stadion hallten noch zu vorgerückter Stunde die Jubelgesänge. Der Abend war noch lange nicht vorbei. Gegen Mitternacht ging es noch in eine Heidelberger Diskothek, wo der U23-Tross die Nacht zum Tag machte. „Heute geht keiner vor mir nach Hause“, versprach Gisdol.
Drei Wochen und vier Unentschieden später war die Saison 2009/10 auch auf dem Papier zu Ende. Walldorf sicherte sich die Vizemeisterschaft und rückte vier Jahre später in die Regionalliga nach. „Hoffe zwo“ hatte sich derweil mit 21 Spielen am Stück ohne Niederlage bis zum heutigen Tag aus der Oberliga verabschiedet. „Nach den erwarteten Startschwierigkeiten haben wir schnell in die Spur gefunden. Wir haben hervorragende Charaktere im Team und es hat einfach jeden Tag Spaß gemacht, sie zu trainieren“, fasste Gisdol eine denkwürdige Saison in zwei Sätzen zusammen.
FC-Astoria Walldorf – TSG Hoffenheim 0:1 (0:1)
Walldorf: Hillenbrand – Hofmann, Löbich, Daub, Reiners – Kretz, Weimer, Stenzel, Groß (66. Hiller) – Kettenmann (79. Mühlbauer), Jaizay.
Hoffenheim: Grahl – Klingmann, Nyenty, Neupert, Schäfer – Rosen – Ludwig (69. Kamavuaka), Kaiser – Herdling – Thomalla, Jabiri (82. Hemlein).
Tor: 0:1 Jabiri (26.). Zuschauer: 950. Schiedsrichter: Tobias Schmitz (Edingen-Neckarhausen). Karten: -.
Walldorf, FC-Astoria-Stadion, 7. Mai 2010
Historische Spiele
1 | Triumph im Schatten des Olympiastadions | U19: TSG Hoffenheim - Hertha BSC 2:1 | Finale DFB-Junioren-Pokal 2010
2 | Ein Meistertitel zum Geburtstag | U16: TSG Hoffenheim - VfB Stuttgart 3:2 | Entscheidungsspiel um die B-Jugend-Oberligameisterschaft 2013
3 | Das eingelöste Versprechen | U19: TSG Hoffenheim – SV Werder Bremen 3:1, 2:0 | Halbfinals um die Deutsche A-Junioren-Meisterschaft 2016