Andrej Kramaric: "Eine Story wie in Hollywood"
Ein bekanntes Bibelzitat lautet: Die Letzten werden die Ersten sein. War das dein Ratgeber für Klubwechsel, oder wie kam es, dass du im Winter 2015 zum englischen Schlusslicht Leicester und 2016 zum damaligen Tabellenletzten TSG gewechselt bist?
Andrej Kramaric: Das ist natürlich eine lustige Parallele. Vor allem, weil es mit beiden Mannschaften dann in der Tabelle bergauf ging. Es waren meine bewussten Entscheidungen, ich war auch nicht böse auf meinen Berater und habe gesagt: 'Warum muss ich immer zum Schlusslicht?' (lacht) Ich habe es jeweils als Chance gesehen, in eine große Liga zu wechseln, mehr zu spielen und den nächsten Schritt in meiner Karriere zu machen.
Wusstest du, dass Hoffenheim ein spezieller Klub aus einem Dorf ist?
Kramaric: Ich kannte den Verein, da ich die Bundesliga verfolge. Und natürlich auch durch Spieler wie Roberto Firmino und Kevin Volland. Zudem hat vor einigen Jahren ja Josip Simunic hier gespielt, ein großer kroatischer Spieler. Aber was mich genau erwartet, wusste ich nicht.
Wie war das Gefühl, als du Hoffenheim und all die anderen Dörfer das erste Mal gesehen hast?
Kramaric: Mir gefiel es sofort. Ich habe viele Jahre in Zagreb gelegt; eine Großstadt, die ich sehr liebe. Aber meine Kindheit habe ich in der Region Hrvatsko Zagorje in Bednja verbracht. Meine Eltern kommen eigentlich vom Land. Und zwar aus einem Teil Kroatiens, der dieser Region hier sehr ähnelt. Darum hatte ich ein Lächeln im Gesicht, als ich das erste Mal durch die Dörfer gefahren bin und aus dem Fenster geguckt habe. Diese Hügel, die ich auch vom Trainingsplatz sehe, die Bäume, die Landschaften und die Weinberge – all das gibt es in meiner Heimat auch. Das entspannt mich und ich fühle mich heimischer als in England.
Bislang fallen deine sportliche und persönliche Bilanz also positiv aus.
Kramaric: Mich freut die Entwicklung und ich genieße es hier. Aber wirklich glücklich und zufrieden werde ich erst sein, wenn wir den Klassenverbleib gesichert haben. Als ich kam, war der Klub in einer sehr schlechten Lage. Aber nach mehreren Monaten bei der TSG muss ich wirklich sagen: Dieser Verein darf nicht absteigen. Es ist ein schönes Gefühl, bei diesem Klub zu sein. Für mich ist er einer der Top-Vereine der Bundesliga. Man hat alles, was die Spieler brauchen. Es wäre eine riesige Freude, am Ende der Saison sagen zu können: Ich habe geholfen, dass die TSG in der Bundesliga geblieben ist. Und ich glaube daran: Die Stimmung in der Mannschaft ist super und die Qualität der Spieler extrem hoch.
Helfen die Erfahrungen aus Leicester aus dem vergangenen Jahr in dieser Situation?
Kramaric: Ich muss natürlich oft daran denken: Wir waren auch abgeschlagen und niemand glaubte mehr an uns, selbst die Wettanbieter nahmen keine Wetten mehr auf unseren Abstieg an. Wir waren abgeschrieben und haben uns zurückgekämpft – so wie nun in Hoffenheim. Wir hatten hier auch schon sieben Punkte Rückstand auf Platz 15. Aber wir dürfen jetzt nicht nachlassen: Jedes Spiel zählt im Kampf ums Überleben.
Hast du deinen Mannschaftskameraden in der schwierigen Phase von deinen Erfahrungen erzählt, Leicester ist ja momentan die unglaublichste Geschichte des europäischen Fußballs …
Kramaric: Ich habe mich nicht auf einen Stuhl gestellt und eine Rede vor der Mannschaft gehalten (lacht). Aber in Gesprächen mit den Spielern habe ich natürlich von Leicester erzählt und dem Abstiegskampf im vergangenen Jahr, in dem wir acht der letzten zehn Spiele gewannen und uns so noch retteten. Ich habe ihnen die Geschichte erzählt und damit auch, wie man zusammen eine schwierige Situation meistern kann.
Was ist denn das Erfolgsgeheimnis dieser Mannschaft, die in England nun sogar vor dem Titelgewinn steht?
Kramaric: Die Atmosphäre im Team ist außergewöhnlich, einfach fantastisch: zwischen den Spielern, dem Betreuerteam und allen Mitarbeitern im Club. Diese positive Energie und die gleichzeitige Ruhe, weil niemand abgehoben ist, sind entscheidend. Es ist unglaublich, was die Kollegen in Leicester leisten. Sie sind fokussiert. In jedem Moment, in jedem Zweikampf. Das ist es, was mich fasziniert und das ist ein Vorbild für uns bei der TSG: Bei jeder Kleinigkeit fokussiert zu sein, um so etwas Großes zu erreichen. Es besteht immer eine Gefahr, dass man ein bisschen zu lässig wird, wenn man viele Spiele gewinnt. Das galt früher auch für mich. Aber in Leicester gab es das nicht. Der Charakter stimmt einfach: Ich habe noch nie so eine Gruppe erlebt, es gab nie Eifersüchteleien. Auch die Älteren, die mal bei Chelsea oder Manchester gespielt haben, haben gesagt: Diese Gruppe ist die lustigste und beste, die sie jemals hatten. Es ist die perfekte Kombination in einem perfekten Moment für den Club.
Gab es einen Moment in der Hinrunde, als die Spieler erstmals glaubten, den Titel wirklich holen zu können?
Kramaric: Wir hatten bei Leicester nach dem Klassenerhalt im Sommer eigentlich nur ein Ziel: 40 Punkte. Und dann hatten wir die in der Weihnachtszeit, das war unglaublich. Da haben der Klub und die Spieler vielleicht angefangen, ein bisschen zu träumen. Aber alle sind ruhig und auf dem Boden geblieben. Und das sehe ich noch immer, wenn ich die Spiele nun im TV sehe. Ich bin noch im Gruppen-Chat mit den Spielern von Leicester, fühle die Atmosphäre dort und ich bin wirklich froh,
wenn sie es schaffen.
Wirst du dich dann als Champion fühlen?
Kramaric: Natürlich. Ich habe in den zwei Partien gegen Liverpool und Arsenal gespielt. Ich habe für Leicester auf dem Platz gestanden und bin ein Teil der Mannschaft. Die Spieler verdienen diesen Titel. Es ist die Chance ihres Lebens. Leicester wird für den Rest meines Lebens in bester Erinnerung bleiben. Die Premier League zu gewinnen und eine Medaille dafür umgehängt zu bekommen, wäre einer der größten Momente meines Lebens.
War es schwer, den Club als Tabellenführer zu verlassen?
Kramaric: Es war eine schwere Entscheidung und ich habe lange drüber nachgedacht. Aber ich wollte mehr spielen. Im Sommer ist die EM, es war die einzige Chance, mich noch dafür zu qualifizieren. Und ich möchte unbedingt mit der kroatischen Nationalmannschaft ein großes Turnier erleben. Ich habe mich in Leicester stark genug gefühlt, aber das Team hat gewonnen. Der Trainer wollte dann nichts ändern, was ich total verstehe. Die Mannschaft schreibt gerade Geschichte. Eine Story, wie es sie sonst nur in Hollywood gibt.
Dazu gehörte auch der ziemlich ungewöhnliche Mannschaftsausflug im Herbst nach Kopenhagen, als die Spieler verkleidet im Zentrum feierten. Wie kam es dazu?
Kramaric: Wir hatten diese drei, vier Tage Freizeit und haben halt in Kopenhagen gefeiert. Die Trainer haben uns die Freiheit gelassen, alles zu tun, was wir möchten. Mein Kostüm war Bowser von Mario Kart. Jeder hatte als Kostüm seine Cartoon-Figur oder einen Superhelden genommen. Am Anfang war ich noch ein bisschen unsicher, als ich aber feststellte, dass mich niemand erkennt, war es unglaublich lustig.
Wie war das Gefühl, als der Trainer sagte: Macht einen Ausflug, lasst es krachen.
Kramaric: Das ist der englische Stil. Man kann trinken, wo und wieviel man will. Als wir mit Leicester Letzter waren und niemand mehr an uns geglaubt hat, haben wir auch schon mal ein paar Tage frei bekommen und jeder ist zum Strand gefahren oder hat Partys gefeiert. Danach haben wir unsere Siegesserie gestartet und den Klassenerhalt doch noch geschafft. Ich kann natürlich jeden verstehen, der sagt, das hat im Profi-Fußball nichts zu suchen. Aber ich muss sagen: in England hat es funktioniert. (lacht)
In Hoffenheim fand die TSG durch andere Mittel zurück zum Erfolg. Einen großen Anteil daran hat Trainer Julian Nagelsmann. Was hast du gedacht, als du gehört hast, dass dein neuer Coach erst 28 Jahre alt ist?
Kramaric: Im ersten Moment war ich verwirrt. Es war eine seltsame Situation. Ich hatte noch nie einen so jungen Trainer und wusste nicht, was mich da erwartet. Aber jetzt bin ich natürlich glücklich. Er hat meine Stärken erkannt und mir Chancen gegeben. Ich fühle sein Vertrauen und habe Tore gemacht und vorbereitet. Mittlerweile kann ich sagen: Es ist mir ein Vergnügen, unter ihm zu spielen. Ich mag sein Training, seine Philosophie, seine Prinzipien. Er ist jetzt schon ein wirklich guter Trainer. In der Zukunft wird er einer der Besten überhaupt sein.
Unter Nagelsmann ist die Offensive viel besser geworden. Was ist mit den Angreifern seit dem Trainerwechsel passiert?
Kramaric: Es ist wichtig, dass wir alle spielen und treffen. Dadurch steigt das Selbstbewusstsein. Und wenn jeder den Ball haben will, wird es für alle einfacher. Das ist ein Grund, warum wir auf einem guten Weg sind und das hat natürlich viel mit Julian zu tun: Mit seinem Training und seiner Art, Fußball zu spielen. Er stellt uns gut ein. Jeder Spieler auf jeder Position weiß in jedem Moment, was er zu tun hat. Das macht uns stark. Darum sieht Hoffenheim nun wie eine Mannschaft aus.
Die Saison befindet sich auf der Zielgeraden: Nimmst du wahr, dass alle den entscheidenden Partien entgegenfiebern?
Kramaric: Jeder von uns verfolgt das große Ziel und ist darauf fokussiert. Wir haben eine sehr gute Atmosphäre in der Mannschaft, einen guten Lauf und sind dem Ziel ein großes Stück nähergekommen. Und obwohl die nächsten Spiele schwer und hart werden, freuen wir uns alle auf den Schlussspurt. Wir wissen, dass wir Punkte brauchen und versuchen, jedes Spiel zu gewinnen.
Hilft es, dass Spieler wie du, Kevin Volland oder Sebastian Rudy noch die Zusatz-Motivation haben, sich durch gute Leistungen für die EM zu qualifizieren?
Kramaric: Jeder ist schon durch die Situation ausreichend motiviert. Man denkt noch nicht viel über die EM nach, weil momentan jedes Spiel überlebenswichtig ist. Jeder weiß, dass wir hier Erfolg brauchen, um zur EM zu fahren. Hoffenheim ist momentan unser Leben. Man spielt hier, wohnt hier, trainiert hier und die Familien sind hier. Das ist das Wichtigste, das will man nicht aufs Spiel setzen. Die EM kommt danach, sie ist der Bonus. Aber natürlich bin ich hierhergekommen, um mit Hoffenheim den Klassenverbleib zu sichern und zur EM zu fahren. Das war der Plan, und es sieht nicht schlecht aus.
Zuletzt warst du aber für die kroatische Auswahl nicht nominiert. Wie ist der Kontakt zu Nationaltrainer Ante Čačić?
Kramaric: Wir tauschen uns aus. Und wenn ich so weiterspiele wie zuletzt, werde ich meine Chance bekommen. Das wurde mir signalisiert. Wir werden sehen, was im Sommer passiert, aber ich hoffe natürlich, nicht so viele freie Tage zu haben. Das würde bedeuten, dass ich bei der EM dabei bin – und zwar möglichst lange.
Wie sieht für dich der perfekte Saisonabschluss aus?
Kramaric: Am 14. Mai haben wir gegen Schalke 04 unser letztes Heimspiel. Spätestens da möchte ich den Klassenerhalt mit der TSG feiern. Einen Tag später tritt Leicester zum letzten Spiel beim FC Chelsea an. Da möchte ich dabei sein. Erst in Hoffenheim feiern, dass die TSG in der Bundesliga bleibt, und einen Tag später in London an der Stamford Bridge über den englischen Meistertitel zu jubeln, wäre einfach überragend. Eine grandiose Saison für mich. Und im Anschluss mit Kroatien zur EM – das wäre die Sahne auf dem Kuchen.
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