Jesse Weippert: Gestern Deutscher Meister, heute Unternehmensberater
Freitag ist Home-Office-Tag. Anstatt im Büro der Firma, die ihren Sitz in einem Industriepark im Stadtteil Oerlikon hat, befindet sich Jesse Weippert zu Hause und genießt beim Arbeiten den Blick auf die Berge und einen nahegelegenen Fußballplatz. „Hier kicke ich noch hin und wieder, aber nur noch zum Spaß“, sagt er. Mit Vereinsfußball auf hohem Niveau hat Weippert, auch aus zeitlichen Gründen, abgeschlossen.
Aktuell arbeitet Jesse Weippert mit seinen Kollegen an einem großen Projekt. Für einen großen Schweizer Lebensmittelhändler entwickeln sie eine Software, mit der der Kunde viele seiner Aktionen planen kann, die rund ein Drittel seiner Einnahmen ausmachen. Der Spaß an dem Job speist sich aus Team-Arbeit, einer großen Verantwortung und der Begeisterung für die Sache – wie im Fußball.
Mit 13 Jahren spielte der gebürtige Öhringer noch bei der SpVgg Mockmühl, dem Heimatverein des späteren TSG-Profis Ermin Bičakčić. Dann bewarb er sich bei der TSG Hoffenheim. „Per Email“, erinnert er sich noch gut. „So etwas wäre heutzutage gar nicht mehr möglich.“ Und tatsächlich: Jugendleiter René Ottinger meldete sich beim aufstrebenden Talent und lud es zu einem Training ein, in dem es den damaligen U14-Trainer Wolfgang Heller überzeugte.
Weippert wechselte 2008/09 zur U14 der TSG, die in jener Zeit noch als C1 des FC Zuzenhausen startete, und wurde vom Offensivspieler zum Rechtsverteidiger umgeschult. „Die erste Saison war bereits ein Highlight für mich, denn es wurde sehr leistungsorientiert und ambitioniert trainiert – und gespielt. Ich habe viel Zeit auf dem Platz verbracht, aber der ganze Aufwand hat sich gelohnt. Jede Übernahme in die nächsthöhere Altersstufe habe ich als Erfolg gewertet.“
Nah dran am Profi-Fussball
Der Spagat zwischen Leistungsfußball und Schule war anstrengend, aber Weippert biss sich durch und machte am Gymnasium seines Wohnorts Neuenstadt am Kocher sein Abitur. Parallel dazu entwickelte er sich in der TSG-Akademie stetig weiter und schaffte auch den Sprung in die U19. „Im ersten Jahr war ich noch nicht bereit“, sagt er heute. Aber im zweiten, unter Trainer Julian Nagelsmann, startete er durch und reifte zum Stammspieler jener Mannschaft, die sich im Juni 2014 mit dem Gewinn der Deutschen A-Junioren-Meisterschaft krönte.
„Das war eine unbeschreiblich schöne Zeit. Vor fast 20.000 Menschen auf Schalke zu spielen, eine Deutsche Meisterschaft zu feiern, das alles prägt für immer. Die unzähligen Stunden, die ich investiert habe, waren nicht umsonst.“ Im Anschluss durfte Weippert mit den Profis ins Trainingslager in die Schweiz und er kam sogar beim Saisoneröffnungsspiel gegen den CFC Genua (1:1) zum Einsatz. Näher sollte er dem Profi-Fußball nicht mehr kommen.
Der Alltag hieß vorerst U23, bald kamen Verletzungen. Im Sommer 2016 der Wechsel zum VfB Stuttgart II, für ein Jahr, in der Rückrunde immerhin Stammspieler. Dann SV Waldhof, Regionalliga, Kreuzbandriss, null Einsätze. Es ist die kurze Zusammenfassung einer langen Leidenszeit, während der ehemalige Kollegen aus dem 2014er Team ihre Profi-Debüts feierten. „Natürlich war die Bundesliga auch mein Ziel, aber irgendwann war es dann leider unrealistisch.“
Augenöffnende Erfahrungen im Dualen Studium
Anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, setzte Weippert auf die Karte „Duales Studium“. Noch in seinem zweiten A-Jugend-Jahr hatte er sich – gemeinsam mit Grischa Prömel, ebenfalls Deutscher Meister 2014 – für VWL in Heidelberg eingeschrieben und nebenbei Praktika bei der Foerch GmbH sowie beim Athletiktrainer der Akademie, Kai Kraft, absolviert. Nun startete er den Studiengang BWL und Handel, arbeitete dabei für Lidl, stand bei Eiseskälte morgens um 6 Uhr in Lagerhallen und legte Nachtschichten ein. „Das hat nicht immer Spaß gemacht und ich wusste auch schnell, dass ich das nicht mein Leben lang machen will. Aber in der Akademie habe ich gelernt, diszipliniert zu arbeiten und mich durchzubeißen.“ Die Zeit in Heilbronn bezeichnet Weippert als „augenöffnend“.
2021 nahm Weippert die nächste Abbiegung und wollte eigentlich Wirtschaftsinformatik in Frankfurt studieren, als plötzlich das Angebot der Unternehmensberatung „Eraneos“ aus Zürich auf seinem Tisch landete. „Mein Abitur war durchschnittlich, das Studium nach dem Fußball schon deutlich besser. Eraneos ist in erster Linie wegen meiner Leistungssport-Vergangenheit auf mich aufmerksam geworden, aber auch wegen meines Einzelhandel-Background, den ich mir bei Lidl erworben hatte“, erzählt Weippert, der die Offerte als reizvoll empfand, allerdings ohne große Erwartungen in die Schweiz fuhr. 20 Prozent Studium Wirtschaftsinformatik und Data Science in Berlin, 80 Prozent Projektarbeit mit einem tollen Team und viel Verantwortung in Zürich. Jesse Weippert schlug ein.
Akademie lieferte das Rüstzeug fürs Berufsleben
„Die Akademie-Zeit war sehr wichtig für mich“, blickt Weippert auf die Jahre 2008 bis 2014 zurück. „Ich habe mir Eigenschaften angeeignet, die mich im Leben weitergebracht haben, und erkannt, was erfolgreiche Teams ausmacht und wie sie geführt werden. Und ich habe gelernt, mit Rückschlägen umzugehen. Das sind Attribute, die man sehr gut aufs Berufsleben übertragen kann. Im Meister-Team 2014 hatten wir viele unterschiedliche Persönlichkeiten und Kulturen, was auch regelmäßig zu Konflikten geführt hat. Aber wir haben sie gemeinsam überwunden.“
Wenn es die Zeit erlaubt, stattet der 29-Jährige seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder in Langenbrettach einen Besuch ab. „Familie ist sehr wichtig für mich, sie hat mich bei allen Entscheidungen unterstützt und begleitet“, sagt Weippert und meint die Zeit vor, während und nach der TSG-Akademie. „Jedem Talent, das die Chance dazu hat, kann ich nur empfehlen, in einem Leistungszentrum wie das der TSG die ganzheitliche Ausbildung mitzunehmen.“
Jesse Weippert ist seinen Weg gegangen. Nicht den ursprünglich erhofften und auch nicht den ohne Hindernisse, aber er ist ihn erfolgreich gegangen und er ermöglicht ihm ein zufriedenstellendes Leben – auch ohne Profi-Fußball. Zwei Faktoren haben für diesen Weg den Ausschlag gegeben: Zum einen die ständigen Verletzungen. „Ich kann nur jedem Spieler raten, sich bei einer Verletzung Zeit zu nehmen, nichts erzwingen zu wollen, und den Moment zu nutzen, um auch mal über den Tellerrand zu schauen.“ Zweitens: Der Wille, etwas Neues auszuprobieren und auch dabei Erfolg zu haben. Hier lautet Weipperts Rat an junge Spieler: „Keine Angst vor Fehlern haben!“
Der Kreis hat sich geschlossen
Ein paar der alten Kontakte von damals hat sich der gebürtige Öhringer bewahrt. Zum Beispiel zu den „Meister-Kollegen“ Grischa Prömel, Benjamin Trümner oder Tom Koblenz, aber auch zu Spielern, die die TSG früher verlassen mussten, wie etwa Lukas Authenrieth oder Alexander Bangerl. Und was sagt er dazu, dass sein früherer Coach heute Bundestrainer ist? „Dass Julian seinen Weg machen wird, war jedem klar, der ihn damals erlebt hat. Man muss aber auch sagen, dass das gesamte Trainerteam – im positiven Sinne – sehr speziell war.“
Die Jahre sind ins Land gezogen. Ab und zu spielt Jesse Weippert noch Fußball, auf dem Platz, den er von seiner Wohnung aus sehen kann. Auf Hobby-Niveau mit Freunden. Die TSG verfolgt er noch sehr intensiv über Social Media. „Beide Kanäle“, wie er betont. Also Profis und Akademie.
Wenn Weippert in seiner Freizeit zum Wandern oder Skifahren mit seiner Lebensgefährtin durch die Schweiz fährt, kommt er manchmal mit dem Zug an Brunnen am Vierwaldstätter See vorbei. An jenem Ort, an dem er mit den TSG-Profis 2014 das Trainingslager bestritten hat. „Das fühlt sich für mich jedesmal so an, dass sich an Kreis schließt. Und es fühlt sich nicht schlecht an.“