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SPIELFELD
29.08.2023

Matarazzo: „Jede Veränderung bietet eine Chance“

Wie die gesamte Mannschaft der TSG Hoffenheim ging auch Cheftrainer Pellegrino Matarazzo mit veränderten Voraussetzungen in die neue Saison. In den ersten Monaten bei der TSG als Cheftrainer war es seine Aufgabe, das Team vor dem Abstieg zu bewahren. Nun strebt der in den USA geborene Sohn italienischer Einwanderer einen deutlich ruhigeren Saisonverlauf an und möchte die Mannschaft weiterentwickeln. In seinem ersten SPIELFELD-Interview spricht der 45-Jährige über seine Ziele, den neuen Kader, seinen Umgang mit den Spielern und erzählt, wie er als studierter Mathematiker zum Fußballtrainer wurde.

In der vorigen Saison warst Du ein Krisenmanager, da Du die Mannschaft mitten im Abstiegskampf übernommen hast. Ist die Saison 2023/24 auch für Dich ein Neustart?

„Wir starten nicht bei null. Es gibt viele Themen, die wir mit der Mannschaft bereits erarbeitet haben. Wir haben aus der Vorsaison natürlich unsere Lehren gezogen und in der Vorbereitung intensiv und auf gutem Niveau gearbeitet.“

Konntest Du nach den schwierigen Monaten des Saisonendspurts in der Sommerpause abschalten und etwas Abstand gewinnen?

„Ich persönlich konnte auch während der Saison gut mit dem Druck umgehen. In der Pause waren meine Gedanken nicht nur rückblickend, sondern überwiegend vorausschauend. Ich habe mich viel mehr mit der Vorbereitung beschäftigt. Trotzdem gab es Momente, in denen ich abschalten konnte. Sonst hat man nicht die Energie, um eine Saison zu überstehen. Während der Saison ist das Handy den ganzen Tag an, auch abends, um erreichbar zu sein. In der Sommerpause habe ich es dann, wenn nichts Wichtiges anstand, tagsüber regelmäßigausgeschaltet, um wirklich Zeit für meine Familie und mich zu haben.“

Was könnt Ihr mitnehmen aus der vorigen Saison? Was soll neu dazu kommen?

„Die Rückrunde war ein sehr gutes Beispiel, wie man in der Bundesliga erfolgreich sein kann – unabhängig von der spielerischen Qualität. Es waren andere Tugenden, die zum Erfolg geführt haben. Es ist ein Vorteil, dass wir diese schwierige Situation erlebt haben und nun die Möglichkeit haben, auf diese Elemente zurückzugreifen. Was wir erreichen wollen, sind Konstanz und in jeder Situation nah an das Maximum zu gehen.“

Bietet der Umbruch im Kader auch eine Chance, obwohl starke Spieler die TSG verlassen haben?

„Jede Veränderung bietet eine Chance. Wichtig ist, dass wir in dieser Umbruchphase die richtigen Entscheidungen treffen. Es ist eine spannende Zeit, mit dem Kader und für mich als Trainer, um bei der TSG gemeinsam mit den Verantwortlichen etwas entwickeln zu können. Das ist für uns alle eine große Chance.“

Möchtest Du die Spielidee beziehungsweise den Spielstil verändern?

„Natürlich wollen wir unsere Spielidee vertiefen und mehr ins Detail gehen: Wir wollen aber weiterhin das Spiel in die gegnerische Hälfte verlagern, Richtung gegnerisches Tor. Wenn das über einen konstruktiven Spielaufbau klappt, ist das gut. Wenn ein flacher Spielaufbau nicht sinnvoll ist, dann ist auch der lange Ball und die Eroberung des zweiten Balles eine Option. Wir brauchen keine Energie in der eigenen Hälfte zu verschwenden, wenn wir keinen Nutzen davon haben. Daran haben wir intensiv in der Vorbereitung gearbeitet. Am Ende geht es aber immer darum, Spiele zu gewinnen.“

„Die Elf soll sich in den Spielen selbst steuern können.“

 

Wie bildest Du Deine Startelf? Und wie läuft Dein Entscheidungsprozess ab, wer von den fast 30 Profis im Kader schließlich Stammspieler wird?

„Es ist ein organischer Prozess: Die erste Elf für den Saisonstart kristallisiert sich bei mir im Laufe der Vorbereitung heraus. Ich schaue zuerst auf einzelne Profile, wer wo steht, und wo die Stärken der Mannschaft als Einheit liegen. Und es geht darum, ein Gespür dafür zu entwickeln, wer mit wem gut agieren kann.“

Wie sieht der ideale Matarazzo-Fußball aus?

„Es gehören viele Elemente dazu. Deshalb vertiefen wir gerade unsere Spielidee. Es geht dabei nicht nur um Taktik und den Umgang mit Spielsituationen, sondern auch darum, eine Mannschaft zu formen, den Teamgeist und auch Geschlossenheit zu entwickeln. Die Elf soll sich in den Spielen selbst steuern können, denn als Trainer ist man während der 90 Minuten limitiert. Man erreicht die Jungs auf der anderen Platzseite selten. Es geht auch darum, Verantwortlichkeiten und Rollen zu verteilen und eine Führungsachse zu bilden. Mir ist es wichtig, eine Haltung zu den Partien und zum Training zu etablieren, die zur Grundlage des Erfolgs wird. Eine neue Saison bietet immer eine neue Chance.“

Du sagtest, die Führungsachse des Teams hast Du im Kopf. Wie sieht sie aus?

„Für mich ist es eine optimale Mischung aus Verantwortung, Kommunikation, Emotion und Erfahrung. Wir versuchen, das Optimale aus jedem Spieler herauszuholen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das Thema ‚Leadership‘ erfolgreich in der Mannschaft etablieren können.“

Planst Du Änderungen in der Grundformation?

„Unsere defensive Grundordnung soll uns Stabilität mit unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten geben, je nach Gegner. Die offensive Struktur wird variabler sein, so sind wir schwerer auszurechnen.“

Seit Deiner Zeit in Stuttgart giltst Du als Förderer von Talenten. Ist es auch bei der TSG Dein Ziel, junge Spieler zu Stammkräften zu machen?

„Natürlich habe ich Spaß daran, junge Spieler zu fördern. Generell sehe ich mich aber als Förderer aller Spieler. Ich freue mich auch, wenn Kevin Akpoguma wie am Ende der vergangenen Saison die stabilste Leistung abruft, seit ich ihn kenne. Ich habe mich gefreut, dass Jay Brooks wieder auf sein Leistungsniveau gekommen ist. Und ebenso freue mich natürlich, wenn Tom Bischof als unser jüngstes Talent den nächsten Schritt macht. Es geht für mich immer darum, jeden Spieler im Kader an sein Limit zu bringen. Am Ende will ich Spiele gewinnen.“

Du bist auf dem Trainingsplatz oft sehr direkt und hast Deine Unzufriedenheit zum Beispiel im Trainingslager immer klar kommuniziert. Bricht dann Dein italienisches Temperament durch?

„È possibile. Vielleicht ist es mein italienisches Temperament, sicher aber auch mein kritischer Geist und mein Anspruch, dass Trainingseinheiten möglichst genauso perfekt umgesetzt werden, wie ich sie bei der Planung vor meinem geistigen Auge habe.“

In welchen Beziehungen bist Du eigentlich typisch italienisch, typisch amerikanisch oder auch typisch deutsch?

„Ich bin ein Mischmasch. (lacht) Ich habe sicherlich von allem etwas.“

Aber streng zu sein, den Spielern sehr deutlich zu sagen, was Du willst, gehört für Dich als Trainer dazu?

„Ein Trainer darf unzufrieden sein und das auch zeigen. Ich habe einen kritischen Geist in mir und möchte möglichst alles optimal und perfekt haben. Das trage ich in mir und deswegen kann immer mal eine gewisse Unzufriedenheit das Ergebnis sein. Mein Gefühl sagt aber, den Finger in die Wunde zu legen, tut den Jungs aktuell gut. Im Prozess der Entwicklung gibt Reibung die notwendige Energie, die es braucht, um etwas zu verändern und mehr zu erreichen.“

Was hat Dich eigentlich dazu gebracht, Angewandte Mathematik an der sehr renommierten Columbia University in New York zu studieren, dann aber doch Fußballtrainer zu werden?

„Meine Leidenschaft für den Fußball war am Ende zu groß, um einen klassischen Bürojob zu machen. Deswegen bin ich aus den USA nach Europa. Diese Neugier auf den Profifußball in Europa war immer in meinem Leben präsent, seit ich mit sechs Jahren angefangen habe, Fußball zu spielen. Schon vor dem Abschluss an der Columbia habe ich meinen Rucksack gepackt, um nach Europa zu gehen, um dort Fußball zu spielen.“ (schmunzelt).

Hast Du das Studium durchgezogen?

„Natürlich. Ich ziehe immer alles durch.“

Und wie ist es Dir ergangen nach der Ankunft?

„Ich bin mit 22 Jahren nach Deutschland ausgewandert. Ich habe viel Herzblut gehabt, den richtigen Drive und auch die Statur, um es als Fußballer zu schaffen. Leider fehlte die technisch-taktische Ausbildung. Ich habe neun Jahre in der vierten Liga gespielt – und war am Ende unzufrieden mit meiner Laufbahn. Es fühlte sich nicht komplett an. Daher habe ich mich entschlossen, im Anschluss die Trainer-Lizenz zu machen.“

War es tatsächlich so, dass Du gesagt hast: ‚Ich habe es als Spieler nicht in die Bundesliga geschafft, ich packe das aber als Trainer‘? War das Dein Antrieb?

„Ursprünglich war der Gedanke, hier meine Trainer-Lizenzen zu machen, wieder zurück in die USA zu gehen und diese dort zu nutzen. Ich habe dann aber meine erste Stelle bekommen – im Nachwuchsleistungszentrum des 1. FC Nürnberg. Mein Plan war, in die USA zurückzukehren, sobald es nicht mehr vorwärtsgeht. Und nun bin ich Cheftrainer in der Bundesliga bei der TSG.“ (lacht)

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